Menschenwürde – keine Erfindung, sondern Wirklichkeit
In einem Text zum Thema Menschenwürde (HIER) im Deutschlandfunk schreibt Arnd Pollmann u. a.:
"Beim Philosophen David Hume findet sich eine provokante Randnotiz: Die Würde des Menschen sei nichts Reales, von Natur aus Gegebenes, sondern eine nützliche Erfindung; eine Illusion zwar, aber eine moralisch lebensdienliche. Denkt der Mensch derart „vorteilhaft“ von sich und anderen, wird er auch sein Handeln an diesem hohen Maßstab ausrichten."
Ich glaube nicht, dass die „Würde“ eine Erfindung ist – auch keine nützliche. Sie ist real.
„Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen bildet die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“ (Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen)
Unantastbar – so würde ich es, grob gesagt, fassen – bedeutet: Bei der Würde des Menschen geht es um seinen intrinsischen, absoluten, durch nichts verrechenbaren Wert, der nicht zur Verhandlung steht - das heißt auch in diesem Sinne unantastbar ist.
Eine „nützliche Erfindung“ hingegen würde die Würde sofort wieder einkassieren, weil sie dann eben an die Nützlichkeit gebunden wäre – und damit sehr wohl verhandelbar. Dass man die Würde nicht in der Natur findet, ist kein gutes Argument gegen ihre Realität. Zahlen findet man dort auch nicht – ebenso wenig wie Gründe als rationale Strukturen – und doch existieren beide.
Die Erfahrung von Würde
Was Menschenwürde ist, erfahren und erleben wir unmittelbar und direkt. Besonders deutlich spüren wir diesen Wert, wenn er verletzt oder infrage gestellt wird: wenn wir schikaniert, erniedrigt, diskriminiert oder beleidigt werden. Noch viel krassere Formen sind Sklaverei, Folter oder die systematische Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern – der menschlichen Fantasie sind hier leider kaum Grenzen gesetzt.
Zum Glück zeigt sich der Wert des Lebens nicht nur in seiner Verletzung, sondern auch in guten Momenten: Freude, Glück, Ausgelassenheit, Rührung, Zärtlichkeit, Momente der Verbundenheit, das Gefühl, gesehen zu werden, Erlebnisse der Schönheit und vieles andere mehr.
Solche Erfahrungen zeigen, dass wir den Wert des eigenen Lebens und des Lebens anderer unmittelbar erleben. Menschenwürde ist kein abstrakter Begriff, schon gar kein leerer oder bloß metaphysischer*, sondern ein erfahrbarer Sinnzusammenhang, der sich in unserer mitfühlenden Wahrnehmung des Anderen unmittelbar zeigen kann. Und natürlich erleben wir den Wert des Lebens auch unmittelbar am eigenen Körper. (*Werte wie die Würde sind im Prinzip paradigmatisch antimetaphysisch, sondern radikal diesseitig, weder sind sie von Gott gegeben, noch lassen sie sich mit metaphysischen Spekulationen erfassen oder wegdiskutieren.)
Freiheit
Der Wert des menschlichen Lebens zeigt sich auch in anderen Aspekten: in unserer Freiheit und unserem Geist. Das heißt: in unserer Fähigkeit, ein Leben nicht nur zu haben und zu erhalten, sondern es zu führen. Dazu gehört, das eigene Leben selbst zu bestimmen und ihm einen Sinn zu geben. Zugleich erkennen wir, dass auch andere dieses Recht haben und dass wir unsere Freiheit nicht auf ihre Kosten ausüben dürfen.
Aus der Würde des Menschen (und weiter gedacht: Der Würde der Kreatur) ergibt sich unmittelbar eine Aufgabe, nämlich die Lebenswirklichkeit auf diesem Planeten so zu gestalten, dass sie dem unhintergehbaren Wert des Lebens gerecht wird.
Natürlich kann die Fähigkeit, den Wert des Lebens zu erkennen und anzuerkennen, abstumpfen oder sogar ganz verloren gehen. Aber das bedeutet nicht, dass damit auch der Wert selbst verschwindet. Wenn die Fähigkeit, etwas zu sehen, verloren geht, so verschwindet damit nicht auch das Gesehene.
Wider die naturalistische Metaphysik
Solche Erfahrungen lassen sich selbstverständlich auch umdeuten – etwa, wenn man einer Metaphysik anhängt, die die Realität von Werten grundsätzlich nicht anerkennt, wie es im Materialismus der Fall ist. Auch diese Position beruht – wie jede Metaphysik – letztlich auf unbeweisbaren Voraussetzungen. In der Regel wird in dieser Sichtweise nur das als real anerkannt, was sich mit den Methoden der Naturwissenschaften nachweisen oder messen lässt. Doch damit ist von vornherein alles Qualitative, was das Leben (auch) ausmacht, aus dem Bild entfernt. Denn Naturwissenschaften erfassen nur, was sich quantifizieren lässt – eine methodische Vorentscheidung, die es, wie ich meine, unmöglich macht, unsere Lebenswirklichkeit in all ihren Dimensionen zu begreifen.
Die Würde der Kreatur und die Verantwortung des Menschen
Nachtrag: Im Grundsatz plädiere ich für eine „Würde der Kreatur“, wie sie in manchen Verfassungen bereits verankert ist. Dennoch glaube ich, dass sich die Würde der Biene von der des Menschen unterscheidet. Empfindungsfähigkeit begründet einen intrinsischen Wert – doch die Menschenwürde ist komplexer: Zu ihr gehört, wie oben skizziert, auch unsere Freiheit, die Fähigkeit zur moralischen Einsicht und unser Geist – also die Möglichkeit, das eigene Leben im Lichte einer Vorstellung davon zu führen, wer man sein will.
In dem Philosophieforum DiaLogos gibt es eine Diskussion darüber! > HIER