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Bild: reve.art |
Unzusammenhängende Bemerkungen zu einem Vortrag von Professor Holzapfel über Cyprien Gaillards Pruitt-Igoe Falls
Holzapfel glaubt, in der Arbeit Cyprien Gaillards etwas ganz Neues zu sehen.
„Traditionelle“ Landschaftsdarstellungen haben nach Holzapfel – wenn ich ihn recht verstanden habe – ein Moment des „Integrativen“. Das heißt, so vermute ich, dass die einzelnen Elemente solcher Darstellungen nicht einfach zufällig oder beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern zu so etwas wie einem Sinn-Ganzen integriert sind.
Man könnte vielleicht auch sagen, dass eine solche Darstellung einer gewissen Logik folgt. Und hier – so habe ich es verstanden – sieht Holzapfel die „Innovation“ Cyprien Gaillards: Seine Natur- und Architekturlandschaften sind nicht mehr in dieser traditionellen Weise integriert. Stattdessen stehen disparate Elemente manchmal unverbunden nebeneinander – die Bildlogik ist gleichsam eine Unlogik geworden.
Ich hoffe, dass ich das einigermaßen richtig wiedergegeben habe. Sicher bin ich natürlich nicht, denn es liegen zwei Einwände auf der Hand, die Holzapfel eigentlich kaum entgangen sein können.
Erstens – neu?
Man kann unmöglich annehmen, dass das Aufheben oder Sprengen einer inneren Bildlogik (oder Vergleichbarem) für die zeitgenössische Kunst oder Künstler:innen etwas Neues darstellt. Vielmehr ist das – polemisch formuliert – eine Grundmelodie dessen, was man gelegentlich als Postmoderne bezeichnet.
Da wir, um gleich den passenden Jargon zu verwenden, das berühmte Ende der großen (integrierenden) Erzählungen erlebt haben – was heißt, dass wir keine die pluralen und oft widerstreitenden Sprach- und Bildspiele übersteigende und integrierende Metaperspektive mehr kennen oder zu kennen glauben –, haben viele Künstler:innen uns jenen „Scherbenhaufen“ zu zeigen versucht, vor dem wir stehen. Jedenfalls dann, wenn eine solche tadelnde Sprechweise überhaupt angemessen ist. Eine alles integrierende Brille können wir nicht mehr tragen – sie würde uns nur ein verzerrtes Bild liefern.
Zweitens – nicht integriert?
Cyprien Gaillard hat den Globus bereist und Bilder gesammelt. Ob diese nun eigentümlich oder archetypisch sind, ob sie unter ein Schema fallen oder sich ihm entziehen – wie auch immer: Sie werden der kontingenten ästhetischen Form der Präsentation Cyprien Gaillards einverleibt. Was auch immer der Künstler vor Ort gesehen haben mag – wir sehen es bloß durch den gleichmachenden Fehlfarben-Filter der Polaroids. Sprich: Wir sehen es eben nicht. Welche Stellung das Dargestellte im je besonderen Sinngefüge seines ursprünglichen Kontextes auch hatte – es wird nun zu einer Stelle unter hundert stets gleichbleibenden Rahmen und dem gleichmachenden Raster der sorgsam arrangierten Polaroids des Künstlers.
Die Bilder werden alle gleich gültig. (Ein „Vorwurf“, der einem bekannt vorkommen mag :-) Der Künstler schafft so seine ganz eigene, gleichgeschaltete Bilderflut. Integration ist im Grunde das Hauptmerkmal dieses aufgeblätterten Archivs. Und Integration kann eben immer auch ein Moment von Gewalt in sich tragen … Was Holzapfel zum Aspekt der (Des-)Integration in Cyprien Gaillards Werk vorgetragen hat, war freilich nicht falsch, aber – wie soll ich sagen – vielleicht etwas undialektisch :-)
Zeit, Geschwindigkeit und Sinn
Holzapfel bietet eine Variation der Losung der Französischen Revolution als Charakterisierung der Moderne an. Statt von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit spricht er (falls mich meine Erinnerung nicht trügt) von Gleichheit, Selbstbestimmung und Geschwindigkeit. Der Begriff „Geschwindigkeit“ ist für meine Zwecke anschlussfähig :-) Also noch ein paar Sätze dazu:
Wenn es stimmt – wie ich weiter oben angedeutet habe –, dass es der Ort in einer Struktur ist, der den Sinn einer Sache ausmacht, dann muss ich dringend hinzufügen, dass vieles (nicht alles) von dem, was Cyprien Gaillard abpolaroidiert hat, von der Zeit längst überholt ist, weil die das Sujet tragende Struktur, das sinnstiftende Gefüge, oft bereits verfallen ist. Sinn ist flüchtiger als Stein. Signifikanten, denen der lebendige Kontext abhandengekommen ist – die also in gewisser Hinsicht tot sind, gleichsam Grabsteine –, haben es Cyprien Gaillard besonders angetan.
Aber halt: Eigentlich ist diese strukturalistische Beschreibung nicht ganz richtig. Besser schriebe ich daher von Prozessen statt von Strukturen – ein Begriff, dem Zeit gleichsam schon eingebaut ist. (Ich gehe damit in Gedanken einen Raum weiter – zu Cyprien Gaillards bewegender Videoarbeit.)
Da für eine hauptsächlich ökonomisch prozessierende Gesellschaft Zeit in der Regel „Zukunft“ heißt, werden hier und da Sprengungen des Vergangenen nötig :-) Eine solche Sprengung macht – wenn man so will – symbolisch einen unauflösbaren Konflikt sichtbar. Den Konflikt nämlich zwischen den vielen konkurrierenden Zeittypen und -erfahrungen, die in einem sozialen Zusammenhang im Widerstreit stehen: unterschiedliche Geschwindigkeiten (um endlich beim versprochenen Stichwort zu landen), unterschiedliche Takte, unterschiedliche Zeitrichtungen und Zeitformen.
Auch hier gibt es keine Metainstanz, kein Übermetronom, das den Takt angibt. („Keine Atempause – Geschichte wird gemacht, es geht voran.“ Fehlfarben)
Mit großer und – erstaunlicherweise zugleich – leiser Geste kontrastiert Cyprien Gaillard solche abrupten Zeitabschnitte oder Einschnitte – etwa gesprengte und einstürzende Neubauten – mit „natürlichen“ Zeitläufen, hier einem an Ewigkeit gemahnenden Wasserfall. Nicht jede große Geste muss peinlich sein – im Gegenteil: Cyprien Gaillards Video lässt den Besucher, wie ich finde, zu Recht melancholisch und nachdenklich zurück.
Kopf und Sinn
Zurück auf Start. Zu Beginn seiner Vorlesung gibt Professor Holzapfel diesen Slogan aus: „Landschaft beginnt im Kopf.“
Ein Motto, das gemischte Gefühle auslösen könnte. Einerseits beginnt heute so vieles im Kopf. Erfolg beginnt dort, Nichtrauchen und Abnehmen sowieso. Man ist solche Sprüche gewohnt – und daher überrascht, dass sich Holzapfel mit diesem offenbar eine kleine Provokation erhofft hatte. Andererseits fragt man sich natürlich: Wo beginnt der Kopf? Der „Kopf“ ist doch keineswegs das ursprüngliche Phänomen, von dem aus alles gedacht werden muss und kann. Und daher natürlich auch nicht die Landschaft. Oder?
In dem Vortrag und der nachfolgenden kurzen Aussprache waren, wie es sich gehört, auch eine Handvoll „Turns“ zugegen: Body-Turn, Iconic-Turn und einige mir bis dahin unbekannte … Die Moderne, wenn man so will, mag mit der Wende zum Subjekt begonnen haben – aber wie kann ein solcher „Landschaft-beginnt-im-Kopf“-Slogan die diversen Turns – beginnend mit dem Linguistic Turn und den vielen anderen, in immer kürzeren Intervallen folgenden – eigentlich unbeschadet überstehen?
Vielleicht noch ein letzter Aspekt:
Über Google Earth gelangen wir heute an jeden Ort der Welt – wenn auch nur virtuell. Bilder von jeder Ecke der Welt sind online hochauflösend für alle verfügbar. Der Welt-Raum ist gewissermaßen implodiert. Cyprien Gaillard scheint ihn in seiner Arbeit – bildhaft gesprochen – wieder herstellen zu wollen. Er war immer auch wirklich da.
Dirk Schwarze über „Pruitt-Igoe Falls“ von Cyprien Gaillard in der Kunsthalle Fridericianum: HIER