Was ist Zeichnen? Eine anti-reduktionistische Skizze.



Die ersten Zeichnungen der Menschheit, die bei archäologischen Missionen entdeckt wurden, sind schätzungsweise über 70.000 Jahre alt. Die Grundstruktur hat sich dabei bis heute wohl kaum verändert.

Ich will hier eine kurze Skizze liefern, die vielen verschiedenen Ebenen des Zeichnens gerecht wird. Vollständigkeit ist dabei nicht möglich. Der anti-reduktionistische Impetus besteht darin, dass Zeichnen nicht vom Gehirn aus verstanden werden soll oder als rein „natürliches“ Geschehen betrachtet wird. Es kann keine nihilistische Sicht auf dieses Phänomen geben.

Die Koordination von Körper, Hand, Auge, Stift und Zeichnung

Fangen wir direkt beim Zeichnen an: Bei der Körper-Hand-Auge-Stift-Zeichnungs-Koordination spielen die Akteure (Körper, Hand, Auge, Stift) ihre Rolle – jeweils als Ganze:

Das Auge, also die Zeichnerin, sieht ihre Hand, nicht Muskelfasern oder Zellen. Die Hand spürt den Stift, so wie er sich ihr präsentiert, und nicht bloße Molekülhaufen. Die Zeichnung entfaltet ihre sichtbare Logik in den mittleren Skalenbereichen, die wir als Menschen nun mal bewohnen. Von Alpha Centauri aus „gesehen“ existiert sie nicht – ebenso wenig aus der Perspektive der Quantenwelt, die vielleicht irgendwo in meinem Schädel oder anderswo mitwirkt. Sie ist zwar nicht unabhängig vom physischen Bereich, der u. a. von diesen beiden Extremen (Quanten/Sterne) aufgespannt ist – keineswegs. Doch eine Zeichnung ist sie nur als für uns Sicht- und Erlebbare – wozu zum Beispiel auch ein normierter Abstand gehört, der sich auf unsere körperlichen Verhältnisse bezieht: Aus einer Entfernung von 1000 Metern sehen wir sie vielleicht schon gar nicht mehr. Ebenso gehören normierte Lichtverhältnisse und vieles mehr dazu.

Embodied cognition/extended cognition

Der Körper spielt sowohl beim Betrachten als auch beim Zeichnen eine große Rolle, ob er nun hintergründig wirkt oder auffällig wird – jedoch nicht bloß als biologischer Körper, den wir von außen betrachten und chemisch beschreiben könnten, sondern als erlebter Körper, sprich: als Leib. Als Leib ist er Teil des bewussten wie unbewussten ästhetisch-kognitiven Prozesses. Man spricht daher manchmal von embodied cognition.

Stift und Papier sind weit davon entfernt, „tote“ Werkzeuge zu sein. Sie denken im Wortsinne mit. Wie sich der Stift anfühlt, ob er glatt über das Papier gleitet oder Widerstand leistet – das ist Teil des ästhetischen Denkens. Sie verankern das phänomenale Erleben, wie der Blindenstock den Blinden mit der Straße verbindet – eine Art extended cognition.

Auch wenn Zeichnen viele intime Momente hat, sind Zeichnungen nicht einfach nur etwas Privates. Im Hintergrund wirken – verinnerlicht, verkörpert, vergeistigt – die Kunstgeschichten. Ob bewusst oder unbewusst: Sie spannen (unter anderem) den kontingenten Raum dessen auf, was überhaupt als Zeichnung gelten kann und gelten wird – einen Raum, den die Zeichnerin verändert, indem sie sich darin bewegt.

Zeichnung als Sinngebilde

Jede Zeichnung entfaltet ihre eigene Logik. Am Anfang mag eine Idee, ein Einfall, eine diffuse Vorstellung oder einfach der Wunsch, etwas zu zeichnen, stehen; doch bereits nach den ersten Linien kann die Zeichnung selbst die Kontrolle übernehmen – oft gleichsam aus der Zukunft. Die Zeichnung ist dabei nicht identisch mit der Grafitspur auf dem Papier; sie existiert immer auch als ideeller Gegenstand, wie sie sich auf der Bühne unseres Bewusstseins zeigt.

Zeichnungen sind Sinngebilde. (Deshalb ist Zeichnen nicht einfach ein Prozess.) Ihre Existenz hängt davon ab, dass es Wesen gibt, die sich – im Idealfall – von ihnen ergreifen lassen. Ihre inneren und äußeren Bezüge sind sinnhaft – manchmal ganz handgreiflich, wenn der Totenkopf für den Tod steht, manchmal viel offener, in den Momenten des: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
Bild: reve.art