Die WORTSCHAU ist eine Zeitschrift für Gegenwartsliteratur, die zweimal jährlich erscheint. Jede Ausgabe präsentiert auch Arbeiten eines bildenden Künstlers oder einer Künstlerin. In der Ausgabe Nr. 43 „Es hört nie auf“ (2024) war ich mit Zeichnungen als bildender Künstler vertreten.
Auf seiner Seite "ersatzgestalt.de" hat Oliver Simon zu der Ausgabe ein paar Bemerkungen geschrieben, auf die ich hier antworten möchte. > Hier geht's zum Text
Ist Picasso elitär?
Einige Gedanken aus dem Text kenne ich durchaus selbst. Hier meine zwei Cent dazu. Ich will mit einem Beispiel aus meinem eigen Metier starten: Wenn Picasso 1961 ein Bild mit dem Titel Le Déjeuner sur l'herbe malt, dann verweist er natürlich auf Manets gleichnamiges Werk von 1863. Hat er damit „bewusst Hürden aufgebaut“? Meines Erachtens nicht. Dennoch: die meisten Menschen kennen Manets Bild gar nicht. Picasso bewegt sich einfach in seinem Feld, dem Feld der Kunst. Dieses Wissen ist ein Spezialwissen, gewiss, aber macht das die Kunst „elitär“ im negativen Sinn? Ich finde nicht. Picasso bezieht sich eben (wie viele andere) auf Manet, der wiederum auf ältere Traditionen wie Giorgione oder Tizian angespielt hat.Das ist meines Erachtens weniger eine bewusste „Hürde“ als vielmehr Teil des Dialogs in der Kunstgeschichte: Künstler:innen sprechen mit ihren Vorgänger:innen und zugleich mit ihrer eigenen Zeit. Das ist keine Form von Abschottung oder Überheblichkeit, also nicht elitär, sondern eigentlich nahezu unvermeidlich, weil man sich als Künstler:in immer auch in einer Geschichte bewegt, die einen geprägt hat – und die man selbst weiterschreibt.
Lücken im gemeinsamen Weltwissen
Malerei, Lyrik, Tanz, Musik, ... setzen zwar immer ein gewisses (gemeinsames) „Weltwissen“ voraus, aber niemand weiß eben alles. Das ist in einer "arbeitsteiligen Welt" unvermeidlich. Auch ich staune manchmal, was ich auf meinem eigenen Gebiet nicht kenne. Aber das, was ich weiß, nutze ich als Reservoir und Steinbruch. Ich kann nicht anders. Ja, ich habe mich auch schon gefragt, wen ich womöglich „ausschließe“, aber eine echte Wahl habe ich nicht: Alles andere hieße, mich selbst zu verleugnen. Und das kann niemand von mir erwarten, sonst müsste ich mit verstellter Stimme sprechen.Umgekehrt kenne ich auch "die andere Seite": Ich bin kein großer Kenner der Literatur und Poesie – gelinde gesagt. Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Gedicht Anspielungen enthält, die ich nicht verstehe, mache ich mich (nicht immer, aber oft) einfach auf die Suche, worum es da gehen mag. Und meist ist das bereichernd.
Nichtverstehen ist kein Scheitern
Manchmal ist Nichtverstehen kein Scheitern, sondern der Beginn einer neuen Spur. Nichtverstehen muss man nicht als Abschottung begreifen, man kann es auch als Einladung verstehen.Übrigens: Verstehen muss nicht heißen, alle "intertextuellen Bezüge" nachzuvollziehen. Manchmal reicht es, beim Klang, bei den Bildern, bei der Stimmung zu bleiben. Gedichte haben oft mehrere Schichten, und kein:e Leser:in muss alle gleichzeitig "erfassen". Auch ein „partielles Verstehen“ kann reich sein.
Wichtiger noch: Unser „Weltwissen“ unterscheidet sich grundsätzlich sehr stark. Kommunikation funktioniert im Alltag nur deshalb, weil es genügend Überschneidungen gibt. Doch in Wahrheit hat jede:r sehr, sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht – und all das fließt natürlich in Kunstwerke ein. Deshalb sind Momente des Nichtverstehens der Anderen immer auch exemplarisch: Sie zeigen einen Aspekt der conditio humana. Für mich ist das eigentlich der entscheidende Punkt.
Und noch ein Nachtrag: Einer meiner Lieblingsausstellungstitel lautet: Dinge, die wir nicht verstehen!